„Ein Jahr an der DHBW Karlsruhe”

Dr. Zhanna Andriichenko, Professorin der Semen Kuznets Nationale Wirtschaftsuniversität Kharkiv

Fast ein Jahr ist es her, dass die DHBW Karlsruhe über eine Einrichtung der Flüchtlingshilfe aus Ettlingen angesprochen wurde, ob man einer Professorin aus Kharkiv helfen könne. Der Krieg hatte gerade erst begonnen und Prof. Dr. Zhanna Andriichenko hatte es mit ihrer Mutter nach Ettlingen geschafft. Im Rahmen  verschiedener Aktivitäten, die für Geflüchtete aus der Ukraine an der DHBW angestoßen wurden, wurden am Standort Karlsruhe Deutschkurse angeboten und Professorin Andriichenko konnte, nachdem sie im Frühling und Sommer für einige Lehraufträge am Standort Karlsruhe verpflichtet wurde, schließlich im September mit einem Vertrag als wissenschaftliche Angestellte für ein Jahr eingestellt werden. Wie geht es ihr nach einem Jahr in Karlsruhe?

Liebe Frau Andriichenko, wie fühlen Sie sich nach fast einem Jahr in Karlsruhe und an der DHBW?
Deutschland und insbesondere Karlsruhe hat mich sehr freundlich und herzlich empfangen. Ich fühle mich in allen Bereichen, beruflich wie privat, sehr gut unterstützt. Ich bin froh, dass ich hier nicht nur eine Zuflucht vor dem Krieg finden konnte, sondern auch meine berufliche Lehrtätigkeit fortsetzen kann. Die DHBW Karlsruhe, vertreten durch den Rektor Prof. Dr.-Ing. Stephan Schenkel, den Prorektor Prof. Dr. Holger Becker, und die Vertreter des International Office, Prof. Dr. Thomas Freytag und Dr. Anita Dreischer, weitere Kolleginnen und Kollegen sowie die gesamte Belegschaft haben eine freundschaftliche Unterstützung und menschliche Herzlichkeit an den Tag gelegt, für die ich sehr dankbar bin.

Wie kam es, dass Sie und Ihre Mutter gerade nach Ettlingen kamen?
In Ettlingen wohnt seit vielen Jahren meine Cousine, der ich früher sehr nahestand, die ich schon einmal besucht habe und die mir, als Russland die Ukraine angriff, sofort anbot, bei ihr Zuflucht zu suchen.

Was haben Sie an der Universität Kharkiv gelehrt und was beinhaltet Ihre Tätigkeit an der DHBW Karlsruhe?
Mit zwei Universitätsabschlüssen in Wirtschaft und Recht und einer langjährigen Lehrtätigkeit konnte ich in verschiedenen Bereichen arbeiten: Ich habe Finanzthemen im Allgemeinen unterrichtet, wie Finanzen und Unternehmensfinanzierung. Sowohl berufsorientiert im Bereich Versicherungsdienstleistungen und Finanzdienstleistungsmanagement als auch eng fokussiert, wie z. B. Geldwäschebekämpfung. Im juristischen Bereich habe ich mich auf Wirtschaftsrecht spezialisiert. In den letzten Jahren war ich an der Fakultät für Management und Marketing tätig. Hier unterrichtete ich die betriebswirtschaftlichen Fächer Wirtschaftsethik, Wirtschaftskommunikation, analytische Unterstützung der Unternehmensführung sowie Technologien zur Entscheidungsfindung in Unternehmen und vieles mehr. Dieses breite Spektrum an Tätigkeiten hat es mir ermöglicht, mich in die bestehenden Studiengänge der DHBW Karlsruhe zu integrieren. So konnte ich, zusammen mit Prof. Dr. Thorsten Harms, Professor der Fakultät Wirtschaft, Marketing in Insurance und Marketing of Financial Services anbieten. Da die Vorlesungen auf Englisch gehalten werden, haben die Studierenden gleichzeitig die Möglichkeit, ihre Englischkenntnisse zu verbessern. Außerdem habe ich zusammen mit Prof. Dr. Karsten Junge, Leiter Studiengang BWL-Industrie (Supply Chance Management), einen neuen Kurs "Business Methods" angeboten und in den Lehrplan implementiert, der es den Studierenden ermöglicht, sich mit Methoden der Entscheidungsfindung in der Wirtschaft vertraut zu machen. Zu meinen Aufgaben an der DHBW gehört auch die Unterstützung der Aktivitäten des International Office.

Was fällt Ihnen am meisten auf in Bezug auf die Lehre an der DHBW im Vergleich zu Ihrem Heimatland?
Ich war von einigen Aspekten der Arbeit der DHBW angenehm überrascht, von denen ich drei hervorheben möchte: Als erstes hat mich natürlich die Umsetzung des dualen Ansatzes im Hochschulbereich an sich überrascht. Die Verbindung des theoretischen Lernens mit praktischer Arbeitserfahrung in der Wirtschaft geht einher mit einer aus meiner Sicht überdurchschnittlichen Motivation der Studierenden. Außerdem hat mich das hohe Maß an Vertrauen, Autonomie und Verantwortung, die den Professorinnen und Professoren entgegengebracht wird, positiv überrascht. Die offene und positive Unternehmenskultur an der DHBW war für mich ebenfalls neu. Sie zeigt sich aus meiner Sicht in allen Managementprozessen: zum Beispiel die Anwendung eines integrativen Ansatzes, der sich auf den Respekt und die Berücksichtigung der Interessen der Lehrkräfte und Studierenden bei der Organisation des Bildungsprozesses konzentriert. 

Was vermissen am meisten, wenn Sie an die Heimat denken?
Dies ist ein sehr schmerzhaftes Thema. Wenn ich an meine Heimat denke, erinnere ich mich an schöne Tage, die ich mit meinen Freundinnen und Freunden verbracht habe: unsere Ausflüge zu Konzerten, Ausstellungen, Reisen in die Natur, Erholung in gemütlichen Restaurants und Spas. Ich erinnere mich an Orte, die ich seit meiner Kindheit in meiner Stadt Kharkiv geliebt habe - prächtige alte Architektur, moderne weitläufige Parks mit jahrhundertealten Eichen, komfortable Infrastruktur, das Café Gloria mit einem einzigartigen Rezept für Eiscreme. Und dann bricht es mir das Herz, wenn ich feststelle, dass all das der Vergangenheit angehört und die Gegenwart aus Schmerz und Zerstörung besteht.

Wie sind Ihre Perspektiven für die Zukunft? Wollen Sie in Deutschland, in Karlsruhe bleiben?
Ich stehe der Vorliebe der Deutschen für Planung sehr nahe. Leider ist in der heutigen Realität der Ukraine eine langfristige Planung fast unmöglich. Das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich derzeit glücklich bin, in Karlsruhe zu sein und bei der DHBW zu arbeiten - ich würde gerne weiter mit ihr zusammenarbeiten.

Text: DR, AN, DI; Foto: DHBW KA//STN